Der Baum mit den vielen Armen
Beim Spaziergang mit Onkel Friedrich

Neulich blieb ich wieder einmal unter einem unserer grossgewachsenen Bäume stehen, der seine Äste weit nach oben streckt, als wollten sie den Himmel selbst umarmen. Ein Vogelhaus baumelt am Stamm und es wirkt fast verloren, so hoch und ehrwürdig reckt sich der Baum darüber hinaus.
Eine Erle? Nein, mein Lieber, das ist keine Erle – das ist eine Esche. Eine Fraxinus excelsior, wie man sie nennt, wenn man Eindruck schinden möchte. Aber ich nenne sie lieber einfach die Königin der Lücken.
Warum? Weil sie oft so wirkt, als hätte sie sich auf halbem Weg umentschieden. Unten kahl, oben wild verzweigt, mit vielen Armen – wie ein Baum, der tanzen möchte, aber nicht weiss, zu welchem Lied. Und trotzdem oder gerade deshalb ist sie mir sympathisch.
Die Blätter sind gefiedert wie bei einem zarten Farn – mit sieben bis dreizehn Fiederblättchen, die sanft im Wind rascheln. Wenn man sie streichelt, fühlt man: Hier wohnt nicht nur Kraft, sondern auch eine gewisse Empfindsamkeit.
Doch leider trägt unsere Esche ein schweres Los: Seit Jahren schon kämpft sie gegen das sogenannte Eschentriebsterben – ein fieser Pilz, eingeschleppt, wie so viele Plagen unserer Zeit. Ganze Wälder hat er schon verwundet, und manch junger Baum hat den Kampf verloren, noch ehe er richtig Wurzeln schlagen konnte.
Wenn du also das nächste Mal an einer Esche vorbeigehst – schau sie dir gut an. Vielleicht ist es ihr letzter Sommer in voller Krone. Vielleicht aber auch hält sie noch Jahrzehnte durch. So oder so: Sie hat unsere Achtung verdient.
Und das Vogelhaus an ihrem Stamm? Ist es bewohnt? Es ist ja so: Wer einen Baum wie diesen seine Heimat nennt, hat einen guten Geschmack.
Doch bis dahin will keiner einziehen
Weisst du, was das Bitterste ist an einem Vogelhäuschen? Wenn es da steht, bereit, einladend, sauber – und leer bleibt.
Ich habe das Häuschen extra so aufgehängt, dass der Wind nicht hineinpfeift. Nicht zu hoch, nicht zu tief, nicht zu nah an Katzenbüschen. Ich habe die Anleitung gelesen, zwei Mal. Ich habe den Einflug ausgerichtet wie ein Flughafenlotse im Morgengrauen. Und? Niemand zieht ein.
Dabei gäbe es Kundschaft genug. Ringsum flattern sie wie verrückt – Meisen, Spatzen, gelegentlich ein Kleiber auf der Durchreise. Im Frühling ein Specht, der dachte, der Baum sei ein Resonanzkörper. Und trotzdem: Das Häuschen bleibt unbewohnt, wie ein hübsch eingerichtetes Ferienchalet mitten in der Hochsaison.
Vielleicht sind die Vögel einfach wählerisch. Vielleicht haben sie sich schon woanders eingerichtet – in Astlöchern, Dachrinnen oder alten Mauern. Oder vielleicht, nur vielleicht, fliegen sie jeden Tag vorbei und sagen zueinander: „Das Häuschen sieht schon nett aus… aber es ist ja bestimmt schon jemand anderes drin.“
Manchmal denke ich: Vögel sind auch nur Menschen.
Heilpflanzen-Ecke
(direkt von Onkel Friedrichs Gartenbank)
Die Esche wurde früher als Heilpflanze geschätzt: ihre Blätter gelten als leicht abführend, harntreibend und wurden gegen Gicht oder Rheuma genutzt. In alten Kräuterbüchern findet man sie unter dem Namen „europäischer Götterbaum“. Heute leider fast vergessen – wie so viele stille Helfer der Natur.